Bibliothekarische Discovery-Systeme: Ein Willens-Problem?

Zwischen OPAC-Nachbau und entdeckendem Suchen

Kürzlich auf Twitter fragte @anotherfami , ob denn niemand mehr zum Thema Discovery bloggen würde. In der Tat geht es diesbezüglich weitaus ruhiger zu als in den Anfangszeiten von E-LIB, beluga, TUBfind, finc, Suchkiste und Co., als die konzeptionellen und technischen Überlegungen der Pionier*innen sehr häufig in Blogs geteilt und tatsächlich auch diskutiert wurden. Vielleicht waren bibliothekarische Blogs als Diskursmedium eher eine Momentaufnahme, so wie ein fachlicher Diskurs auf InetBib auch eine Momentaufnahme war.

Weswegen sich aber die Frage stellt, wo, gerade im Pandemie-Zeiten, ein solcher Diskurs stattfindet. In der beluga core-Community finden alle Treffen als Videokonferenzen statt, und während Absprachen zu konkreten Entwicklungszielen wie barrierefreie Themes oder Neuerwerbungslisten gut funktionieren, fehlt ein Forum für ein gemeinsames konzeptionelles Nachdenken, gern auch ohne konkretes Ziel.

Konzeptionelles Nachdenken wäre zum Beispiel zum „Entdeckenden Suchen“ angebracht – einem meiner Lieblingsthemen des Jahres, über das ich zuletzt auf dem VuFind-Summit unter dem Titel "Less searching, more browsing: a plea for more features to support actual discovery“ vorgetragen habe. Es besteht die Andeutung eines Konsens, dass da Bedarf besteht, aber es fehlen zumindest im Moment geeignete Formate für notwendige Diskussion darüber. Und es vor allem eine entschlossene Willenserklärung, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Das Problem der bibliothekarischen Discovery ist aber vielleicht ein genau solches Willens-Problem: Die Kraft, die bereit steht, um ein solches System einzuführen, geht meinem Eindruck nach vielerorts in der Hauptsache darein, diese Systeme möglichst OPAC-gleich zu gestalten. Tatsächlich ist das an vielen Stellen auch unumgänglich, denkt man an die Verfügbarkeitsanzeige und die gnadenlose konzeptionelle Klarheit der PAIA/DAIA-Schnittstelle, die die zahlreichen Sonderlocken, die sich Bibliotheken über die Jahrzehnte bei der Verwendung von Ausleihindikatoren und Sonderstandorten gestrickt haben, einfach nicht verzeihen will. In der Folge rauben Mühe und Frust bei der Implementierung vermutlich die Inspiration, um darüber auch noch zu bloggen – um die eingangs zitierte Frage zumindest in Teilen zu beantworten.

Gleichzeitig ist die PAIA/DAIA-Schnittstelle neben dem offenen Index K10plus Zentral eines der ganz großartigen Ergebnisse, die (auch) auf Discovery-Projekte zurückgehen. Mit beiden Diensten sind gut dokumentierte, offene Bestandteile einer Informationsarchitektur entstanden, die sich über die aktuell vorhandenen Anwendungen hinaus noch auf vielerlei Weise nutzen lassen könnten – und auch kooperativ weiter entwickelt werden, wie die AG Discovery im GBV und eine aktuelle Diskussion über die PAIA/DAIA-Schnittstelle auf einer Mailingliste des Verbundes zeigen.

Bei der Implementierung eines Discovery-Systems sind immer viele Entscheidungen zu treffen. Bei den meisten hilft es, wenn man eine klare Vorstellung davon hat, welches Problem genau gelöst werden soll – also beispielsweise ein attraktiver Einstieg in die Suche nach wissenschaftlicher Literatur für Suchmaschinen-geprägte junge Menschen. In einer Themenstunde der beluga-core-Community – einem neuen Format, die der gezielten Vorstellung von einzelnen Features gewidmet ist – stellte die HCU-Bibliothek kürzlich ihre strategischen Leitlinien für die Entwicklung der HCU-Literatursuchmaschine vor. Neben der Einbeziehung von eigener und fremder Usability-Forschung hat mich vor allem ein Satz beeindruckt: „Für uns ist klar, dass das Bibliothekspersonal NICHT die Zielgruppe des Systems ist“. Eine Leitlinie, die vieles vereinfachen dürfte, denn die Gründe, warum das Bibliothekspersonal immer noch mit Discovery-Systemen fremdelt, sind nach wie vor zahlreich, während ein Mindestmaß an Akzeptanz ist gleichzeitig unerlässlich ist, wenn das Bibliothekspersonal natürlich idealerweise gern und sicher an der Auskunft mit dem Discovery-System beraten soll.

Trotzdem sei noch einmal nachdrücklich erinnert, dass eine stärkere Nutzer*innen-Orientierung der Impuls überhaupt für die Erfindung der Discovery-Systeme gewesen ist. Noch mehr als Usability-Studien wurden die frühen Discovery-Systeme von den großen ethnografischen Studien zum Informationsverhalten von Studierenden geprägt, seien es „Studying Students“ von Nancy Fried Foster et. al. oder die leider nicht mehr in der englischen Übersetzung erhältliche Studie „The hybrid library: from the users‘ perspective“ (auf dänisch). Diese Studien aus den Jahren 2006 bzw. 2007 eröffnen einen wertvollen Rundumblick auf die Art und Weise, wie sich Studierende ihre Literatur beschaffen und stellen im gemeinsamen Ergebnis immer wieder fest, dass der Bibliothekskatalog bzw. das Discovery-System stets nur eines von vielen benutzten Systemen in einem Rechercheprozess ist. In der Folge glaube ich kaum, dass es für Nutzende als problematisch empfunden wird, wenn die beratende Person im Laufe des Gesprächs vom Discovery-System in einen klassischen Katalog wechselt, um bestimmte Informationsbedarfe zu erfüllen. Vor allem sind diese Studien die Aufforderung dazu, die Bedeutung des Discovery-Systems nicht zu überhöhen und konsequent daran auszurichten, was den Nutzenden wirklich hilft – seien es leicht erkennbare und funktionierende Direktlinks auf elektronische Ressourcen oder eben tatsächlich mehr Funktionen für das entdeckende Suchen oder Hilfen bei der Relevanz-Einschätzung. So denke ich zum Beispiel immer noch an eine Studentin in einer frühen beluga-Usability-Studie, die Literatur zum Thema Schlüsselqualifikationen suchte, auf die Detailansicht eines diesbezüglichen Titels starrte und sinngemäß sagte: „Gut, das mit dem Verlag und der Seitenzahl muss sein, aber wenn ich nicht weiß, wo ich anfangen soll, hilft mir das gar nicht“.

Wirklich überzeugende Antworten haben bibliothekarische Discovery-Systeme auf solche Anliegen bislang kaum gefunden – vielleicht tatsächlich, weil zu viel Energie in die Basis-Funktionen gehen muss und ein wirklich entschlossener Schritt in Richtung entdeckendes Suchen mit zu vielen Risiken verbunden wäre. Deswegen und überhaupt ist ein „solides“ Discovery-System ohne viele Experimente natürlich ein gutes Ziel – vor allem dann, wenn es mit einer strategische Fokussierung auf eine Zielgruppe einhergeht.

geschrieben von Anne Christensen

Anne Christensen hat Bibliotheks- und Informationswissenschaften studiert und über 20 Jahre Berufserfahrung als Bibliothekarin.
Profil von Anne Christensen

Eine Antwort zu “Bibliothekarische Discovery-Systeme: Ein Willens-Problem?

  1. Bibliothekar sagt:

    Fehlender Wille mag in einigen Fällen eine Rolle spielen. Ich glaube aber eher, dass in den üblichen Projektrahmen einfach der nötiger Freiraum fehlt, um über die „Kernfunktionen“ hinaus zu denken. Zudem sind wir als Community schlecht im Wissensmanagement: es gibt viele Vorschläge für Verbesserungen, Studien, Ideen (übrigens auch von Nicht-Bibliother*innen), die aber nicht in einer fortwährenden Fachdiskussion gebündelt, diskutiert und ausgestet werden. Daher habe ich den Eindruck, dass es in den letzten 10 Jahren kaum Weiterentwicklungen in bibliothekarischen Discovery-Systemen gibt. Ich lasse mich da gern vom Gegenteil überzeugen. Meine Erklärung dafür ist, dass die einzelnen Projekte nicht auf gebündeltes Wissen oder einer Community zurückgreifen können, und im Projektrahmen lässt sich halt nicht alles Aufarbeiten, was andernorts und zu anderen Zeiten bereits erarbeitet wurde.
    Gleichzeitig beobachte ich, dass die nichtbibliothekarischen Discoverysysteme immer more sophisticated werden, siehe z. B. die Blog Beiträge von Aaron Tay.
    Microsoft Academic hat neulich die MeSH integriert. Damit sind sie (neben dem Einsatz von automatischen Verfahren) selbst bei der Einbindung von intellektuellen Erschließungsdaten besser als die meisten Discoverysysteme, die ich von Bibliotheken kenne.

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